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27.04.23

Ambitioniertes Vater-Sohn-Duo

An diesem Wochenende startet die Amputiertenfußball-Bundesliga in ihre dritte Spielzeit, der HSV tritt zusammen mit den Sportfreunden Braunschweig und Tennis Borussia Berlin als SG Nord-Ost an. Auch Friedrich und Hinrich Stender mischen mit: Der eine als Trainer, der andere als Torwart.

2017 stand für Hinrich Stender ein ganz besonderer Ausflug an: Zusammen mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Johann reiste der damals zehnjährige Hinrich zur Jugendfreizeit eines Tauchvereins in die Niederlande, sein erster Urlaub ohne Eltern. Die Jugendlichen waren auf einem Holzsegelschiff unterwegs, wie man es aus Piratenfilmen wie „Fluch der Karibik“ kennt, und genossen die freie Zeit unter Gleichaltrigen.

Direkt am ersten Tag sollte der Ausflug eine unverhoffte Wende nehmen: Einige Kinder sprangen vom Schiff ins Wasser, Hinrich hüpfte hinterher – doch er rutschte unglücklich in die Stahlseile, die den Mast des Schiffs halten, und verlor seine rechte Hand. Zwar wurde sie zunächst wieder angenäht, dann aber doch wieder abgestoßen.

Für Hinrich, der seit seinem siebten Lebensjahr Fußball gespielt hatte, änderte sich schlagartig vieles. Im Alltag, in dem auch heute noch seine Handprothese zwar eine gewisse Stütze ist, aber nicht dabei hilft, Besteck oder ein Glas zu halten. Und auch im Sport. Denn in all den Jahren, in denen Hinrich Fußball gespielt hatte, hatte es für ihn nur eine Position gegeben: Das Tor. „Als Torwart hat man eine große Verantwortung“, beschreibt der mittlerweile 16-Jährige seine Faszination für diese Position. „Die Mitspieler müssen sich auf den Torhüter als letzten Mann verlassen können – es gibt mir ein gutes Gefühl, wenn ich dieses Vertrauen spüre.“

Einmal Torwart, immer Torwart

In seinem damaligen Verein wurde ihm eine Rolle als Feldspieler angeboten, doch der passionierte Torwart wollte weiter auf seiner Lieblingsposition spielen. Für eine gewisse Zeit herrschte Ratlosigkeit bei Hinrich, doch dann kam der Amputiertenfußball in sein Leben. Über Umwege erfuhr sein Vater Friedrich von einem Projekt in Sinsheim, das Menschen mit Dysmelie oder einer Amputation ermöglicht, Fußball zu spielen. Unter dem Label „Anpfiff Hoffenheim“ fand alle vier Wochen ein Trainingswochenende statt, für Hinrich war klar: Das ist meine Chance. Zwar war es für ihn anfangs ungewohnt, mit nur einer Hand Bälle zu halten, doch von Einheit zu Einheit kam Hinrich immer besser zurecht – und erkannte auch schnell den besonderen Reiz des Amputiertenfußballs: „Da wir auf einem Kleinfeld spielen, ist das Spiel deutlicher schneller. Man muss immer wachsam sein.“

Die weite Reise in den Süden Deutschlands wurde so zur Routine für die Familie Stender, die fortan regelmäßig die rund 700 Kilometer aus Bad Schwartau nach Sinsheim auf sich nahm – neben Vater Friedrich kamen stets auch seine Mutter sowie sein jüngerer Bruder mit. „Auch wenn viel Aufwand damit verbunden war, waren das immer schöne Wochenenden“, erinnert sich Hinrichs Vater Friedrich. „Wir haben dort im Sportlerheim geschlafen, zusammen mit den anderen Familien gefrühstückt und uns ausgetauscht.“

Amputiertenfußball kommt im Norden an

Zwei Jahre lang ging das so, bis sich 2020 bei den Sportfreunden Braunschweig ein Team entwickelte. Zwar bestand die Auswahl an Amputiertenfußballern bereits vorher, zuvor hatte das Team jedoch kaum Spieler gehabt. Das änderte sich so langsam, und so benötigte die Familie Stender fortan nur noch drei Stunden, um Hinrich das Training in Braunschweig zu ermöglichen.

In der Zwischenzeit bemühte sich Christian Heintz, Initiator des Projekts „Anpfiff ins Leben“, den Amputiertenfußball auch in Norddeutschland weiter zu fördern, und stieß beim HSV auf offene Ohren. Seit 2021 gibt es dort nun ein Amputiertenfußball-Team, das zusammen mit den Sportfreunden Braunschweig und Tennis Borussia Berlin in der Bundesliga antritt. Für die Familie Stender wurde die Fahrzeit damit noch geringer, doch vor allem für Friedrich sollte sich einiges ändern – denn plötzlich war er Trainer der SG Nord-Ost.

„Ich war schon lange beim Amputiertenfußball dabei, kannte die Spieler und die organisatorischen Hürden“, erinnert er sich, „und wurde gefragt, ob ich nicht das Traineramt bei der SG Nord-Ost übernehmen wolle.“ Er wollte – und sagte nach Abstimmung mit Sohn Hinrich, ob es denn wirklich okay sei, dass sein Vater ihn künftig trainieren würde, zu. Als Trainer hatte Friedrich zuvor keine Erfahrung, doch er wollte die Sache vernünftig angehen und machte sich schnell daran, sich fortzubilden und eine Trainerlizenz zu erwerben. Neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit als Techniker beim NDR kümmert er sich nun um Trainingseinheiten, Unterkünfte an Spieltagen, Verpflegung – es kommt viel zusammen. Friedrich Stender übernimmt diese Tätigkeit aber gerne, denn: „Mir liegt diese Sache am Herzen. Natürlich möchte ich auch meinem Sohn ermöglichen, möglichst professionell Fußball zu spielen.“

Dass er von seinem Vater trainiert wird, ist für Hinrich jedoch kein großes Thema, auch wenn er sich zunächst daran gewöhnen musste. Mittlerweile sagt er: „Wenn wir auf dem Platz sind, sehe ich meinen Vater als meinen Trainer – mehr nicht.“ Und auch Friedrich trennt familiäre und fußballerische Angelegenheiten professionell, strukturelle Themen rund um das Team hält er von seinem Sohn fern – was für Hinrich wichtig ist, passiert auf dem grünen Rasen.

Aller Anfang ist schwer

Die Premieren-Saison 2021/22 in der Amputiertenfußball-Bundesliga verlief dann noch etwas holprig, in der vergangenen Spielzeit konnte die SG Nord-Ost jedoch schon einige Spiele gewinnen. An diesem Wochenende (29./30. April) geht nun die Saison 2023/24 los: Am ersten Spieltag geht es ins baden-württembergische St. Leon-Rot, neben den arrivierten Anpfiff Hoffenheim und Fortuna Düsseldorf tritt die SG Nord-Ost auch gegen Liga-Neuling 1. FSV Mainz 05 an.

„Die Vorfreude ist riesig“, sagt Hinrich, sein Vater pflichtet ihm bei – und formuliert ambitionierte Ziele: „Wir sind sehr gut vorbereitet und erwarten, oben mitspielen zu können. Unser Ziel ist es, mindestens Zweiter zu werden.“ Der bisherige Weg des Vater-Sohn-Duos zeigt: Diesen beiden ist eine Menge zuzutrauen.