
Spitzensport
23.05.24
Nichts ist unmöglich – Para-Speerwerferin Lise Petersen im Portrait
Paralympics, Weltmeisterschaften, Deutscher Meistertitel: Para-Speerwerferin Lise Petersen hat bereits einiges erlebt – und das mit 18 Jahren. Die Ziele der HSV-Athletin sind klar: Auf der ganz großen Bühne um Medaillen werfen.
Manchmal sind es kleine Momente, Begegnungen, Sekundenbruchteile, die das Leben eines Menschen nachhaltig prägen. Zufälle, die vieles verändern. Als Lise Petersen acht Jahre alt ist, hat sie eine dieser Begegnungen. Bereits mit drei Jahren fängt Petersen, die ohne linken Unterarm auf die Welt kommt, mit dem Handball an. Fünf Jahre später trifft sie dort auf Britta Jänicke, die ebenfalls keinen linken Unterarm hat - und Potenzial sieht. „Britta hat in der Handball-Bundesliga gespielt, war aber auch in der Leichtathletik als mehrfache Paralympics-Gewinnerin extrem erfolgreich und hat mich gefragt, ob ich nicht Lust darauf hätte, das mal auszuprobieren“, erinnert sich die mittlerweile 18-Jährige. Und sie hatte Lust.
Die gebürtige Heiderin fängt bei einem Verein in Schleswig-Holstein mit der Leichtathletik an und trainiert mit Menschen ohne Behinderung, bereits in ihrem ersten Jahr stehen die nationalen Para-Meisterschaften an. Die Achtjährige Lise geht im Dreikampf in der Altersklasse U14 an den Start – und wird direkt Deutsche Meisterin. Petersen findet zunehmend Gefallen an der Leichtathletik und übt sich in verschiedenen Disziplinen, letztlich spezialisiert sie sich auf das Speerwerfen.
„Ich war schon immer sehr wurfbegeistert und habe eine gewisse Grundlage durch den Handball“, erklärt sie ihre Wahl, hinzu kommt: „Es hat mich sehr gereizt, die komplexe Technik beim Speerwerfen zu meistern. Man hat immer etwas, an dem man arbeiten kann. Und das Gefühl, den Speer richtig zu treffen, ist der Hammer.“
Fulminanter Start in die internationale Karriere
Die kommenden Jahre verlaufen rasant: Mit 14 startet sie durch eine Ausnahmeregelung bei der U17-Weltmeisterschaft in der Schweiz, eigentlich müssen Teilnehmende mindestens 15 Jahre alt sein. Doch Petersen bekommt erstmals die Chance, sich auf der internationalen Bühne zu zeigen – und die nutzt sie: Am Ende steht die Goldmedaille. „Ich bin komplett ohne Erwartungen in den Wettkampf gegangen und stand am Ende als Weltmeisterin da. Das war eine unfassbare Erfahrung, die auch ausgelöst hat, dass ich weitermachen und solche Erlebnisse wieder haben will“, erinnert sich die 18-Jährige.
Und das nächste Highlight lässt nicht lange auf sich warten: Zwei Jahre später stehen die Paralympischen Spiele in Tokio an – die größte Bühne für jeden, der Sport treibt. Die damals 16-Jährige schaut in einem Livestream, welche Athlet:innen aus dem deutschen Team mit nach Japan fliegen dürfen. „Ich wollte eigentlich nur wissen, ob es eine Freundin von mir geschafft hat, dabei zu sein“, erinnert sich Petersen, die an die eigene Nominierung nicht wirklich denkt. Und plötzlich fällt der Name Lise Petersen. „Ich bin in Tränen ausgebrochen, weil ich überhaupt nicht damit gerechnet hatte und mich so gefreut habe“, erzählt die HSV-Athletin.
Die Bedingungen vor Ort sind jedoch hart: Mit 16 Jahren ist sie erstmals für längere Zeit von Familie und Freunden getrennt, dazu sind die Stadien in Tokio durch die Corona-Pandemie leer. Vor allem überwiegt aber eines: „Es war ein krasses Gefühl, sich bei den Großen beweisen zu können – und das auf der größtmöglichen Bühne.“ Am Ende schafft sie es ins finale Teilnehmerfeld und landet auf Rang sieben. „Ein Traum, dass ich das geschafft habe“, sagt Petersen.
Bei der Weltmeisterschaft 2023 wird es sogar Rang acht, kurz danach schließt sich die Para-Speerwerferin dem HSV an. „Ich wollte als kleines Kind schon immer nach Hamburg ziehen und habe oft beim Fest der 1000 Zwerge mitgemacht“, berichtet Petersen von ihren frühen Berührungspunkten mit dem Verein. „Nun die Raute auf der Brust zu tragen, ist eine riesige Ehre.“
Mit dem Wechsel zum HSV wird ein weiterer Traum wahr – und in Hamburg arbeitet sie gemeinsam mit ihrem Trainer Michael Schild hart daran, die Erfüllung weiterer Träume wahr werden zu lassen. Sechsmal die Woche wird trainiert, parallel studiert Petersen an der HAW Hamburg Gesundheitswissenschaften. „Für mich ist es sehr wichtig, neben dem Sport ein Standbein zu haben“, sagt die 18-Jährige. „Der Studiengang passt zu mir und ich kann viel für den Sport mitnehmen: Seien es psychologische Aspekte oder Wissen über Ernährung.“
Die Karriere der ambitionierten HSV-Athletin, die trotz ihres jungen Alters schon viel erlebt hat, steht noch immer in den Startlöchern. Doch die weiteren Ziele sind klar: Die Paralympics 2024 in Paris sind ein „weiterer Traum, seitdem ich klein bin“. Die Norm dafür erreicht sie bei der jüngst zurückliegenden Weltmeisterschaft in Kobe nicht, am Ende steht Rang sechs. Zwei Wettkämpfe stehen noch an, über die sie die Norm noch schaffen kann – auch eine Nominierung unabhängig der Norm ist denkbar.
Auch wenn sie bei der WM in Kobe nicht an ihre Bestleistung anknüpfen kann, zeigt Petersens Leistungskurve stark nach oben: Als sie beim HSV ankommt, liegt ihre Bestweite bei 33,17 Metern. Nach vier Monaten Training mit Michael Schild und kleinen Anpassungen liegt sie bei 37,46 Metern. „Lise ist sehr akribisch, diszipliniert und motiviert“, zeigt sich Schild begeistert von der Arbeitsmoral der 18-Jährigen. „Solange sie gesund bleibt und Spaß am Sport hat, kann sie viel erreichen.“
Das Fernziel ist daher klar: Bei den Paralympischen Spielen 2028 in Los Angeles sollen die vorderen Plätzen angegriffen werden. „Die Teilnahme an den Paralympics 2021 in Tokio waren nicht geplant, Paris in diesem Jahr wäre ein Traum. In Los Angeles will ich um Medaillen werfen“, ist für Petersen sicher. Auch wenn sie durch dutzende Trainingseinheiten im Monat und ihr Studium kaum Zeit für Freunde und Familie hat, ist eines klar: „Ich bin meinem Umfeld extrem dankbar, dass es so viel Verständnis für mich hat, und werde einiges nachholen, wenn die Saison vorbei ist. Es wäre ein Traum, wenn sich diese Arbeit auszahlt.“
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Foto: Oliver Heuser